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Wenn der Aufschwung über uns hereinbricht

Wenn der Aufschwung über uns hereinbricht

In letzter Zeit war viel von „Aufschwung“ die Rede. Damit wurde vor allem der wirtschaftliche Aufschwung bezeichnet, der nunmehr nach einer sogenannten Wirtschaftskrise in unser Land Einzug gehalten hat. Doch der Begriff Aufschwung bezeichnet auch ganz grundsätzlich die Verbesserung einer Lage. Doch wie lässt sich die vom Aufschwung dominierte Lage aus arbeitspsychologischer Sicht beschreiben?

Jürgen Glaser, Professor für Angewandte Psychologie an der Universität Innsbruck, hat einen eigenen Blick auf die Lage der Dinge. Er beschäftigt sich in seiner Forschung vornehmlich mit Arbeitspsychologie. Ein wichtiger Blickwinkel, denn der „Aufschwung“ erreicht uns nicht nur abstrakt als diffuses emotionales Gefühl in unserer Lebenswelt, sondern ganz konkret in unserer Arbeitswelt als Arbeitnehmer oder Selbstständige.

Allgemein bemängelt Glaser aus arbeitspsychologischer Sicht, dass in vielen Branchen und an vielen Arbeitsplätzen Arbeitsintensivierung und Arbeitsextensivierung so fortgeschritten seien, dass es zu „persönlichen Kollateralschäden“ komme. Er weist auf „Stressoren“ am Arbeitsplatz hin: „Es kommt vor, dass man einfach mit der Menge an Arbeitsaufgaben überfordert ist.“ Auch Aspekte wie Veränderungen in der Arbeitswelt und immer mehr Entscheidungen führt er als solche Stressoren an. Viele Arbeitnehmer müssten auch zunehmend mit ihrer Zeit haushalten und diese qualifizieren. Früher sei ebendies Aufgabe der Führungskräfte gewesen. „Die Beschäftigten arbeiten außerdem ‚entgrenzt‘, zum Teil auch zu Hause“, skizziert Glaser eine aus seiner Sicht „pathologische“ Entwicklung. „Sie können nicht mehr abschalten und bekommen gesundheitliche Probleme.“

Im Anschluss an diese Analysen von Glaser lässt sich die Frage stellen, wohin uns der im Moment diagnostizierte Aufschwung führen wird. Ist der Aufschwung gar ein guter Partner des Dogmas des stetigen, infiniten Wachstums? Soll er uns zu noch mehr Leistung und Selbstausbeutung führen? Und wenn ja: Führt uns dieser Aufschwung dann nicht noch mehr hin zur Erschöpfung und letzten Endes zum Burn-out?

„Höherqualifizierte, Jüngere und womöglich auch Ungebundene, vor Energie Strotzende, denen es nichts ausmacht, von hier nach da zu reisen, profitieren natürlich stärker.“

Jürgen Glaser,
Professor für Angewandte Psychologie

Der „Aufschwung“ und der Markt

„Aufschwung ist auch ein Markt, von dem viele profitierten“, sagt Glaser. „In diesem Kontext entstehen auch Arbeitsplätze“, betont er die positiven Seiten. „Aber es geht immer mehr auch zulasten der Beschäftigten“, schiebt er die Schattenseite nach. „Eine Systemgrenze ist erreicht.“

Die Veränderung der Arbeitswelt und der Begleiter Aufschwung führen aber nicht nur zu Überlastung und Überforderung. „Für bestimmte Beschäftigungsgruppen entstehen auch mehr Spielräume und mehr Autonomie“, betont der Psychologe. Das führe aus psychologischer Sicht zu mehr Kreativität und mehr Engagement. Dennoch sieht Glaser auch hier die Tendenz, dass diese Veränderungen auf Kosten der Zeit für Erholung gehen. „Schöner wäre es, wenn man es mit den personellen und ökonomischen Rahmenbedingungen so gestalten könnte, dass der Aufschwung zu einer Win-win- Situation werden würde“, spricht Glaser über seine Vorstellung des gegenwärtigen Arbeitsmarkts.

Weitere Aspekte sind zu beachten, etwa dass der Aufschwung womöglich gar nicht bei jedermann und jederfrau ankommt.

„Höherqualifizierte, Jüngere und womöglich auch Ungebundene, vor Energie Strotzende, denen es nichts ausmacht, von hier nach da zu reisen, profitieren natürlich stärker“, glaubt Glaser.

Damit ist deutlich, dass der Aufschwung, verstanden als eine Art Welle, die über uns hereinbricht, auch neue Normen und Erwartungshaltungen seitens der Ökonomie für Arbeitnehmer und Selbstständige mit sich bringt. Wollen wir überhaupt von dem Aufschwung profitieren oder möchten wir nicht lieber mehr Freizeit, weniger Entgrenzung und weniger Reisebereitschaft?

„Entscheidend aus psychologischer Sicht ist, dass man das Gefühl hat, selbst darüber zu entscheiden“, meint der Professor für Angewandte Psychologie. Es könne eine ganz bewusste Entscheidung sein, zu Hause zu arbeiten. Denkbar sei aber auch, dass man dazu aufgrund der Arbeitsmenge gezwungen wird, so Glaser. Man müsse zwischen Flexibilitätsanforderungen und Autonomie unterscheiden. „Je mehr Kontrolle man selbst hat, desto positiver sind die Effekte“, weist Glaser auf Studien hin.

Aufschwung – aber für wen und wie?

Doch was sagen Studien zu den Wertehaltungen der Arbeitnehmer? „Laut Studien steht bei Jüngeren Freizeit hoch im Kurs, Loyalität zum Arbeitnehmer nicht so stark. Es geht nicht mehr nur um Geld“, weiß Glaser. Wollen wir also von der „Welle“ des Aufschwungs mitgerissen werden? „Jeder kann potenziell mitgerissen werden“, meint Glaser. „Aber bei Menschen, die stets in stark reglementierten Bereichen gearbeitet haben, kann man den Hebel nicht so schnell umlegen.“ Es gebe psychologisch begründbare Widerstände gegen Veränderungen, die ein behutsameres Vorgehen erfordern.

Sehr plausibel ist jedenfalls die These, dass Aufschwung und Aufbruch als Konzepte miteinander korrelieren können. Der Aufbruch als Konzept hat das Potenzial, die grundsätzlich positive Konnotation des „Aufschwungs in konkreten Veränderungen und Verbesserungen für Arbeitende manifest werden zu lassen.
„Aufbruch ist eine Form von Veränderung“, glaubt auch Glaser.

Man kann man also sagen: Aufschwung, ja bitte. Es ist nur allzu verständlich, dass dieser nach einer Phase der wirtschaftlichen Unsicherheit willkommen geheißen und angenommen wird. Dabei sollte aber der Blick auf die Arbeitsrealität nicht verloren gehen. Aufschwung führt zu Wachstum. Doch kann und soll die Ökonomie stetig wachsen und welche Folgen hat das für die Arbeitnehmer oder als Selbstständige in diesem Zusammenhang tätige Menschen? Gehen vom Aufschwung positive Veränderungen und qualitative Verbesserungen aus oder führt Aufschwung nur zu einer Anhäufung der Arbeitsaufgaben und einer Verlängerung der Arbeitswelt mit erzwungener Entgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit?Quelle:
ECHO Zeitschriften und Verlags Ges.m.b.H.